Was ist da los? Es geht doch
allen gut – fast allen. Oder?
Wut – Angst – Frust – die Schlagzeile fand sich in der Woche vor der Bundestagswahl 2017 nicht sonstwo im hatespeechverseuchten Netz, sondern auf der Titelseite Deutschlands seriösester Wochenzeitung – die Zeit1.
Verbunden mit der Frage, warum das Land eher nach rechts als nach links rückt.
Es rückte nach rechts. 13,0 Prozent im Bundesdurchschnitt, mancherorts tatsächlich 37,4 Prozent.
Warum?
Warum Wut, Angst und Frust und warum herrscht „verbreitet depressive Stimmung“2.
Und das bei einer richtig guten Wirtschaftslage, um das mal auf die Wirtschaft zu reduzieren.
Aber auf diesem Feld zeigt sich, was wirklich Depression ist: The Great Depression, die große Weltwirtschaftskrise, führte in den USA zu einer Arbeitslosenquote von 25 Prozent und einem Rückgang der Durchschnittslöhne von 60 Prozent. In Deutschland Ähnliches, wenn nicht, mit einer Hyperinflation, sogar noch Schlimmeres.
Davon sind wir heute weit, weit entfernt.
Wir genießen Frieden. Krieg ist nicht in Sicht.
Wir sind überwiegend gesund. Cholera und ähnliches betrifft uns nicht.
Wir kommen katastrophenmäßig gut weg. Jedenfalls treffen uns keine solchen Stürme und Erdbeben.
Wir sind reich.
Oha, jetzt kommt’s.
Manche meinen, sie seien „zu kurz gekommen“. Klar, reich sind nicht alle. Oder doch?
Es gibt zwar nichts Relativeres und Umstritteneres als die Begriffe „reich“ und „arm“, aber vielleicht einigen wir uns doch darauf, dass es uns im Großen und Ganzen besser geht als den Menschen in der Zentralafrikanischen Republik und in den meisten Ländern dieser Welt3.
Wo ist dann unser großes Problem, das zu Wut, Angst und Frust führt?
Das Problem heißt: Neid.
Neid ist etwas grundsätzlich Unschönes, eine ziemlich negative Emotion. Jeder ist neidisch, aber keiner will es sein. Daher eignet sich der Vorwurf, „Sie sind ja nur neidisch“ prima als Waffe4. Es heißt, Neid sei das böse Wort, das die Reichen für den Gerechtigkeitssinn der Armen verwenden5.
Allgemein gilt Neid im christlich-abendländischen Verständnis als Laster, wobei man genau genommen zwischen konstruktivem und destruktivem Neid unterscheiden muss6. Neid bezieht sich meist auf Einkommen und Besitz, also ökonomische Kategorien. Doch das Wirtschaftsleben ist mitunter recht kompliziert. Daher resultiert Neid oft aus Unverständnis. Steht schon in der Bibel7. Das Matthäus-Evangelium erzählt die Geschichte vom Besitzer eines Weinbergs, der Arbeiter suchte8. Morgens fand er Tagelöhner, mittags stellte er weitere ein und abends nochmal. Am Ende erhielten alle denselben Lohn – und zwar den vereinbarten. Dennoch griffen bei denen, die schon morgens schufteten, Wut und Frust um sich. Neidisch? Fragt der Gutsbesitzer. Und er sagt richtig: Euch ist kein Unrecht geschehen. Dennoch wird hier unser Sinn für Gerechtigkeit ziemlich strapaziert. Martin Schulz würde sagen: „Es ist Zeit für Gerechtigkeit.“
Damit liegt er hier falsch, alles ging mit rechten Dingen und gerecht zu. Kein Unrecht, obwohl, ökonomisch betrachtet, der Stundenlohn der Frühaufsteher niedriger ist als der Spätaufsteher. Das ist, zugegeben, schwer zu schlucken.
Daher ist Neid teilweise verständlich.
Verständlich ist der Neid desjenigen, der nichts hat, auf denjenigen, der extrem viel hat. Verständlich ist hier auch der manchmal kämpferische, politische Wille, hieran etwas zu ändern.
Nur: Das ist nicht die Situation in unserem Land!
Die meisten von uns haben nicht nichts, sondern sind eher relativ reich als relativ arm.
Und das ist das Erstaunliche am Neid: Er gedeiht außerordentlich prächtig auf hohem und höchsten Niveau. Plump vereinfacht: Der Millionär ist auf den Milliardär neidisch. Da zeigt sich, warum manche meinen, Neid sei das Dümmste aller Laster und Emotionen. Nicht einmal Spaß hat man dabei, im Gegensatz zu anderen Lastern.
Neid ist auch beliebig skalierbar, wie Rolf Dobelli so schön erklärt9. Der Tellerwäscher ist auf die größere Hütte seines Nachbarn neidisch, später als Millionär ist er dann auf die größere Villa des Nachbarn neidisch.
Eigentlich müsste er sich freuen, dass er es von der Hütte zur Villa gebracht hat.
Es gibt hierzu ein interessantes soziologisches Experiment. Jeweils einem aus einer Gruppe von Teilnehmern wird folgendes Angebot gemacht:
Entweder er bekommt 100 Euro und alle anderen Teilnehmer 50 Euro,
oder er bekommt 200 Euro, alle anderen 400 Euro.
Die meisten entscheiden sich für die 100 Euro, obwohl sie auch das Doppelte würden haben können. Aber anscheinend ist das Gefühl, dass andere relativ mehr haben unerträglicher, als der persönliche absolute Vorteil.
So ist der Mensch: Statt Fröhlichkeit darüber, dass er viel bzw. genug hat, empfindet er Wut, weil andere mehr haben. Angst er könne etwas verlieren. Frust, wenn scheinbar nur die anderen gewinnen.
Wut, Angst, Frust.
1 Die Zeit 38/2017
2 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.09.2017: „Adieu Heimat-Partei“
3 Wer sich über den Wohlstand der Nationen informieren will, gehe zum Human Development Index (HDI).
Allgemeines bei den Vereinten Nationen.
In Deutsch und die Liste dazu bei Wiki unter „Index der menschlichen Entwicklung“.
Deutschland steht 2016 auf Platz vier.
Zum Wesen des Neides gehört es auch, dass man sich immer mit seiner näheren Umgebung vergleicht, das heißt, meist mit dem Nachbarn.
Nachbar Frankreich, wo Gott selbst sich niederlassen würde, steht auf der HDI-Liste auf Platz 21, Nachbar Polen auf Platz 36.
God’s Own Country auf Platz 10.
4 Immer wenn (relativ) hohe Gehälter zur Diskussion stehen, wie jüngst die 319.920 Euro (2015) des Chefs einer öffentlich-rechtlichen Anstalt, kommt, an Stelle einer Rechtfertigung, der Vorwurf, die anderen seien doch nur „neidisch“.
5 siehe Wikipedia-Eintrag „Neid“
6 siehe Wikipedia-Eintrag „Laster“
7 Matthäus 20, 1-16
8 Gelesen in allen katholischen Kirchen Deutschlands am Wahlsonntag 2017 – Zufall?
9 Rolf Dobelli, Die Kunst des klugen Handelns, Hanser Verlag, München, 2012, Seite 153 ff.