Diese und andere derzeit populäre Füllsel.
Ähm, ein Füllsel ist, äh, Hackfleisch, zumindest in der Paprika. Also, äh ja, im Küchenlatein, äh, -deutsch. In der Rhetorik ist ein, äh, Füllsel, ein „Verzögerungslaut“, „Pausenlaut“, „Flicklaut“, laut Wikipedia1, „im Deutschen üblicherweise äh, ähm oder mhh“.
Mhh, das meine ich aber nicht.
Was ich meine, hat Olga Tokarczuk in „Gesang der Fledermäuse“ ganz wunderbar beschrieben2: „Ich hatte meine Theorie zum Thema solcher Füllsel. Jeder Mensch hat so einen Ausdruck, den er überstrapaziert. Oder den er falsch anwendet. So ein Wort ist der Schlüssel zu seinem Geist. Herr ,Angeblich‘, Herr ;Generell‘, Herr ,Scheiße‘, Frau ,Eigentlich‘. Der Vorstand war Herr ;Nichtwahr‘. Natürlich gibt es Moden für manche Worte, ebenso wie es andere Moden gibt, die bewirken, dass die Leute plötzlich alle einen Rappel kriegen und in identischen Schuhen oder schwarzen Klamotten herumlaufen. Das Gleiche passiert mit Worten: Auf einmal benutzen alle dasselbe Wort. Noch bis vor kurzem war es ,sozusagen‘ und heutzutage feiert das Wort ,zeitnah‘ Triumphe.“
Das war vor etwa zehn Jahren. Das „nichtwahr“ am Satzende ist noch immer aktuell, ebenfalls oft gehört, das „ja“ am Satzende, bei dem der Zuhörer ständig meint, nicken zu müssen. Meist handelt es sich weniger um das Erheischen von Zustimmung oder Überheblichkeit, sondern um einen schlichten Sprechfehler, der sich mit ein paar Rhetorikstunden austreiben ließe.
Die aktuellsten Füllsel im tokarczukschen und zabotaschen Sinne: natürlich und tatsächlich.
Wer Radio hört, gewinnt den Eindruck, dass jeder versucht, das Wort „natürlich“ möglichst oft in einem Satz unterzubringen. Fast immer ist es überflüssig. In einem Schulaufsatz würde am Rand das Fehlerzeichen „Whs“ stehen. Wiederholung Sprache.
Ein paar Beispiele: Reporter auf der Möbelmesse in Köln. Fragt Passanten, warum sie so hier sind, trifft auf Designerin. Reporter will wissen, ob sie beim Anblick der Wohnung, Rückschlüsse auf die Psychologie der Leute ziehen könne. Sie antwortet: „Ich bin natürlich keine Wohnpsychologin, ich bin natürlich Innendesignerin…“ Bravo! Zweimal „natürlich“ in einem Satz.
Ernährungsexperte: „Die Preise für Lebensmittel haben sich natürlich stark zurückentwickelt“ Warum ist es denn „natürlich“, dass sich die Preise für Lebensmittel stark zurückentwickelt haben? Und überhaupt: „zurückentwickelt“! „Minuswachstum“, oder was?
Zitat aus der Tageszeitung: „Ein die Stadt Frankfurt betreffendes Urteil ist natürlich von besonderer Tragweite…“ Was ist daran natürlich?
Manchmal erklärt sich der Gebrauch des Wortes durch eine gewisse Aufgeregtheit von Interviewten. Radioreporterinnen und Radioreportern dürfte das eigentlich nicht passieren. Dennoch schaffte es eine Kollegin in eineinhalb Minuten zwei „natürlich“ und ein „tatsächlich“ unterzubringen. Nicht, dass ich jetzt mit der Stoppuhr Jagd auf Füllsel machen würde – aber die Sendung, ein Programmhinweis, trägt den Titel „1:30 für…“. Da fiel es eben auf.
Oder in einer Grünanlage: Person sitzt auf Bank. Kommt zweite Person und fragt, ob daneben noch frei sei. „Natürlich ist da frei“ lautete die Antwort. Hä?
Kurz vor der Abreise am Freitag fragte der Pressesprecher des besuchten Unternehmens den Journalistenkollegen, ab man in der Bahn einen Sitzplatz reserviert habe. „Natürlich haben wir reserviert“, lautete die Antwort. Vollständig klang die Antwort so: „Natürlich haben wir reserviert, Idiot“. So ein Wort ist eben der Schlüssel zum Geiste des Sprechenden.
Die Polarforscherin: „Der Eisbär ist natürlich neugierig.“
Völlig unerträglich ist es, wenn das Füllsel mit Evidentem einhergeht: „Es ist natürlich so, dass…“ Wenn es „natürlich so ist“, gibt es doch dazu nichts zu sagen. Oder: „Ich hätte mir natürlich gewünscht, früher zu öffnen…“ Wer wünschte sich das nicht? „Natürlich mit Hygienekonzept…“ Wer hätte das gedacht?
Auf Platz zwei in den aktuellen Füllselcharts kommt: tatsächlich. Es ist geradezu epidemisch und ich gebe zu: „Strg F tatsächlich“ zeigt auch in meinen Texten viele, zu viele, Tatsächlichs. Das Wort soll wohl einerseits für Aufmerksamkeit sorgen, andererseits eventuellem Widerspruch antizipierend begegnen. In etwa so:
Stellen Sie sich vor, Monsieur Jo war (tatsächlich) ein Erpresser.
Nein!
Doch!
Ooooh!3
Ein „tatsächlich“ kann durchaus seine Berechtigung haben. Zum Beispiel in dem Satz „Das habe ich tatsächlich erlebt und nicht geträumt“. Meist muss es jedoch als Füllsel herhalten.
Was außerdem gerade Triumphe feiert ist: „Es geht darum…“ Ein Statement einer Politikerin oder eines Politikers ohne dieses Füllsel ist derzeit undenkbar. Besonders Wirtschaftsminister lassen gerne wissen, worum es geht. Ausgerechnet. Weil man ja keine Ahnung hat. Der Gebrauch der Redewendung hat teilweise schon bizarre Züge. Neulich wurde im Radio eine Englisch sprechende Person interviewt. Man hört noch, wie sie im Hintergrund mit dem Satz „The plan is…“ anhub, und dann die moderierende Person übersetzte: „Es geht darum…“.
Dass es anders geht, habe ich vor kurzem erlebt: Eine Kunsthistorikerin, die als Professor an einer deutschen Universität lehrt und in ihrer französischen Heimat ebenfalls eine anerkannte Expertin ist, spricht ein so schönes, wohlklingendes, korrektes, elegantes Deutsch – nicht ein natürlich, bzw. tatsächlich, geschweige denn ein „äh“.
Ebenfalls gerade im Übermaß genutzt – das metaphorische Sehen. Wir „sehen“ die Zahlen steigen und fallen, wir „sehen“ eine starke Verunsicherung oder wir „sehen“ etwas nicht. „Herbert Diess, der Vorstandsvorsitzende des VW-Konzerns, hält die Idee eines großen Marktes für Brennstoffzellen-Autos für zu optimistisch. ,Sie werden keinen breiten Einsatz von Wasserstoff in Autos sehen. Nicht einmal in 10 Jahren, weil die Physik dahinter einfach so unvernünftig ist,‘ sagte Diess der Financial Times.4“
Und wie Olga Tokarczuk sagt: Es sind Moden. Manches verschwindet wieder. Natürlich ist am Ende des Tages die vor Jahren so häufig genutzte Wendung: „am Ende des Tages“ tatsächlich wieder verschwunden.
Foto von Andrea Piacquadio von Pexels
1 Wikipedia-Eintrag „Füllsel“ abgerufen am 18.03.2021
https://de.wikipedia.org/wiki/F%C3%BCllsel
2 zitiert aus Olga Tokarczuk „Gesang der Fledermäuse“, Kampa Verlag AG, Zürich, 2019, Seite 211f.
3 Dialog mit Louis de Funès und Bernard Blier in dem Film „Hasch mich – ich bin der Mörder“ (1971)
https://www.youtube.com/watch?v=WJlZLG9UXSY Damals ging es noch ohne das besagte Wort.
4 zitiert nach Business Insider, 10.03.2021: VW-Mercedes & Co. verabschieden sich von ihren Wasserstoff-Träumen…
https://www.businessinsider.de/wirtschaft/mobility/vw-mercedes-co-verabschieden-sich-von-ihren-wasserstoff-traeumen-das-spricht-gegen-den-h2-antrieb-b/