Die Wut des Westens

Wo bleibt die Wut des Westens? Fragt Ines Geipel. Hier ist sie.



Sorry, aber ich bin nun mal auch „Westdeutscher“ (- doch eigentlich Europäer). Das Einteilen in „West- bzw. Ostdeutsche“ ist nicht besonders glücklich, und, noch unglücklicher, meist ist von „den Ostdeutschen“ die Rede. Es sollte nach 1989 nur Deutsche (und Europäer oder Weltbürger) geben.

Dennoch haben die unterschiedlichen Verhältnisse in Ost und West die Menschen geprägt, sofern sie 1989 so um die zwanzig gewesen sind. Für viele von uns im Westen gab es einfach nur den Westen. Das war unsere Blickrichtung. Wer in Friesland, am Rhein oder an der Saar, in Eifel oder Schwarzwald groß geworden ist, „tief im Westen“, nach Grönemeyer, wer weder Wurzeln noch Verwandte „drüben“ hatte, denen man Kaffee schickte, für die oder den war der Westen das Maß der Dinge. Im Osten: die Mauer. Italien, Spanien, Portugal – da ging`s hin. Die DDR? Die DDR kannte man aus dem Diercke-Atlas als nur einen von den Staaten des Ostblocks. Wie Polen oder Bulgarien. Damit hatten wir nichts am Hut und fragten uns, warum das jetzt zusammen gehört.

Wir im Westen sind in glückliche Verhältnisse hineingewachsen und mit bestimmten, mehrheitlich für gut befundenen Werten groß geworden: „Westbindung“! Dazu gehören unter anderem die Grundrechte, die Bündnisse mit den USA, Frankreich, Großbritannien und Israel1, die Nato – vor allem aber die Europäische Union.

Wenn sich in „Ostdeutschland“ nun eine Partei breit macht, die das alles in Frage stellt – was soll man davon halten?
Ich sag’s Ihnen: Man wird wütend!

Sie frage sich, wo die Wut des Westens bleibe, so die Autorin und Professorin Ines Geipel, geboren 1960 in Leipzig, in einem Interview2.
Hier ist sie also, die Wut des Westens.

Es sind zwei Punkte im Wahlprogramm dieser Partei, bei denen uns im Westen das Messer im Sack aufgeht.
Das eine ist der EU-Austritt.
Freunde, Deutsche, Bürgerinnen und Bürger – wir sind nicht allein auf der Welt! Wir brauchen einander! Wir als „Exportnation“ sowieso. Frieden und Wohlstand hängen an unserer Bündnisfähigkeit. Diese Partei steht für Nationalismus und Nationalismus ist die Vorstufe zum Krieg. Oder wie Hamed Abdel-Samad so treffend schreibt: „Patriotismus kommt von Selbstvertrauen. Nationalismus von Überheblichkeit und einer feindlichen Haltung gegenüber der Welt. Patrioten lieben ihre Heimat, Nationalisten lieben ihre Angst um ihre Heimat3“.
Das zweite ist die Einstellung dieser Partei zu ökologischen Themen. Wer die Klimakrise nicht kapiert und den „Diesel retten“ will, der sollte in diesem Lande nicht eine einzige Stimme bekommen4.
Wenn diese Partei außerdem wieder den Reichstaler einführen will, dann Gute Nacht!

Wer also in diesen Punkten nicht auf der Höhe der Zeit ist, versaut uns die Zukunft. Uns im Westen und Euch im Osten! Also, „Ostdeutsche“, nein, Deutsche überhaupt – wählt nicht diese Partei!

Freilich haben wir im Westen, das muss man ja sagen, keinen Grund, den ersten Stein oder überhaupt einen Stein zu werfen. Auch hierzulande gab es eine Partei, die rechtsradikal war und die in Baden-Württemberg den Einzug in den Landtag geschafft hat. Nach ein paar Jahren war sie wieder weg.

Gelassenheit statt Wut wäre also besser. Wobei es angesichts der Einstellung eines großen Teils der Menschen im Osten zum Thema Impfen wirklich schwer ist, gelassen zu bleiben. Warum muss ich jetzt Nachteile und finanzielle Einbußen durch die Lockdowns ertragen, wenn sich „driben“ die Leute nicht impfen lassen?

Die interessantere Frage ist: Wie machen wir weiter?

Dazu hätte ich zwei Vorschläge.
Vorschlag 1: Der Westen schlägt sich auf die Brust und gesteht seine Fehler ein. Der größte war, fast die gesamte DDR-Wirtschaft in die Tonne zu treten und Millionen Menschen ihrer Jobs und ihrer Idendität zu berauben. Es ist ja nicht, so dass an der DDR-Wirtschaft alles schlecht gewesen wäre. „Man hatte viel geschafft in der DDR, trotz der Sowjets, trotz der noch immer immensen Reparationsleistungen an die UdSSR“, wie der Krimi-Kommissar Max Heller neulich5 sagte.
Vorschlag 2: Wir bilden in jedem Bundesland einen Bürgerkonvent und erarbeiten eine – gemeinsame – Verfassung, die das Grundgesetz ablösen könnte. Dabei berücksichtigen wir auch, wie wir beispielsweise die Verfassung des Freistaats Sachsen in die neue Verfassung der Bundesrepublik Deutschlands einbetten und wie beides zusammen kompatibel zu einer schon lange überfälligen Verfassung der Europäischen Union (in lateinischer Sprache) einbetten.

Vielleicht könnte der Anstoß dazu tatsächlich aus dem Osten kommen.

aktualisiert: 3.12.2021



1 deutschlandfunk.de, 10.11.2017, „Emotionales Symbol der Zusammenarbeit“
https://www.deutschlandfunk.de/deutsche-kampfflugzeuge-in-israel-emotionales-symbol-der.1773.de.html?dram:article_id=400302

https://www.flugrevue.de/militaer/israelische-luftwaffe-in-deutschland-wenn-die-militaeruebung-zum-persoenlichen-ereignis-wird/

2 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.09.2019: „Euer Schmerz, euer Schweigen

3 Hamed Abdel-Samad, „Aus Liebe zu Deutschland“, dtv Verlagsgesellschaft, München, 2020, S. 31

Ähnlich, so Abdel-Samad, verhalte es sich mit dem Unterschied zwischen Gläubig-Sein und Fanatisch-Sein. ´“Ein gläubiger Mensch glaubt, von Gott beschützt zu sein, ein Fanatiker dagegen glaubt, Gott beschützen zu müssen.“

4 Am Rande: Während der ganzen Vereinigungsduselei haben die Regierenden dem Klimaschutz keine Beachtung geschenkt. Damals hätten wir die Weichen für die Dekarbonisierung etc. stellen müssen. Die erste Umweltkonferenz fand 1992 in Rio statt, den ersten Report des Weltklimarat (IPCC) gab es schon 1990 und die Ölmultis wussten schon in den 1980ern, wie Kohlendioxidausstoß und Erderwärmung zusammenhängen.
https://www.heise.de/news/Klima-veraendert-sich-dramatisch-Weltklimarat-legt-neuen-Bericht-vor-6147059.html?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE

5 Frank Goldammer / Feind des Volkes – Max Hellers letzter Fall, dtv Verlagsgesellschaft, München, 2021, S. 409 (der Roman spielt im Jahre 1961, das „neulich“ bezieht sich auf das aktuelle Erscheinungsdatum)


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