43

43! Das ist die Altersgrenze. Darunter sind die Briten
eher für den Verbleib in der Europäischen Union,
darüber eher dagegen. Es ist auch die Grenze zwischen
Fortschritt und Rückschritt.

In Großbritannien ringen/rangen* die Befürworter und die Gegner einer EU-Mitgliedschaft miteinander. Dabei sind mehreren Umfragen zufolge die Jüngeren, liberal eingestellten und kulturell aufgeschlossenen, für die Europäischen Union, die älteren eher dagegen. Die magische Altersgrenze, so das Marktforschungsinstitut Yougov, liegt bei 43 Jahren2.

Anscheinend geht es hier nicht nur um die EU, sondern um das zuversichtliche Nachvorneschauen und das verzagte Zurückblicken. Es geht um Fortschritt oder Rückschritt.

Der Fortschritt ist das gemeinsame Europa, derzeit in Gestalt der Europäischen Union. Der Rückschritt, der große Rückschritt, ist, sich hinter dem Ofen wärmender nationaler Gefühle zu verkriechen.

Ältere in ganz Europa (43+) scheinen hier wärmebedürftiger (Wärme im Sinne von Heinrich Heine`s Kuhmagd1). Zurück zum großen Großbritannien, zur guten alten BRD mitsamt ihren befestigten Grenzen, zurück zur geliebten D-Mark (der Front National, „Zurück zum Franc“, nennt es „monetäre Souveränität“), zurück zu den alten Autokennzeichen. Zurück, zurück!

Zurück zum Nationalstaat, der derzeit eher für das Gute steht, die Europäische Union, Brüssel, dagegen für das Schlechte. Für alles Schlechte.

Die Wahrheit sieht anders aus. Der Nationalstaat ist ein Modell von gestern, das heute nicht mehr in der Lage ist, die globalen Probleme von heute (u. a. Klima, Migration) zu lösen. Der Nationalstaat ist der erste Schritt in den Krieg. Nur mit nationalem Pathos haben sich die Völker gegeneinander aufhetzen lassen. Der Nationalstaat hat kaum noch wirtschaftliches Gewicht, zumindest Kleinstaaten nicht, wie Deutschland, Frankreich oder Großbritannien (demnächst vielleicht Kleinbritannien, bestehend aus England und vielleicht mit Wales).

Den Nationalstaat hat es auch nicht schon immer gegeben, wie viele Ältere glauben. Die Nationalstaaterei ist ein Phänomen des 19. Jahrhunderts. Davor gab es Fürstentümer, deren Herrscherhäuser eng miteinander verbunden waren – was sie freilich nicht daran gehindert hat, sich dauernd zu befehden.

Auch wenn es viele nicht mehr hören können, weil es so selbstverständlich scheint: die Fehden und die Kriege sind vorbei, es herrscht weitgehend Frieden. Schon das ist der Wert der Europäischen Union, der ausreichen müsste.

Aber auch alle anderen Werte, auf die wir heute bauen sind europäische Werte: die Demokratie, das Recht, die soziale Sicherung, die Wirtschaftsordnung. Und wenn wieder jemand fragt, welches eigentlich die gemeinsamen Werte in Europa seien, antworten Sie einfach: die doppelte Buchführung (beschreibt erstmalig Mitte des 15. Jh. der Kaufmann Benedetto Cotrugli in seinem Libro dell’arte di mercatura2) und der Regenschirm3, eine jahrhundertealte kontinentaleuropäische Erfindung, ohne die die Briten rettungslos verloren wären.

Es ist Zeit, für diese Werte und für den Fortschritt kämpfen.
Es ist Zeit, für Europa zu kämpfen.

Dazu hat kürzlich das Magazin Neon4 aufgerufen, ein Magazin, dessen Leserzielgruppe zwischen 20 und 35 Jahre alt ist.

Das ist ein Hoffnungsschimmer, denn für diese Werte will scheinbar niemand mehr kämpfen, nicht einmal die eher kämpferisch veranlagte Jugend. Sie riss in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Schlagbäume nieder. Wer kennt heute noch Schlagbäume, außer bei Reisen in die Schweiz oder in der Flüchtlingskrise? Es ist alles so selbstverständlich geworden.

Ist es nicht! Zum einen ist diese Europäische Union noch nicht perfekt, zum anderen kommen ständig neue Herausforderungen auf uns zu, zum Beispiel die Flüchtlingskrisen oder das aggressive Verhalten anderer Staaten, die sich als „Großmächte“ sehen und sich alles, nur keine starke EU wünschen, sondern kleine Einzelstaaten, die sie schurigeln können.

43 – das ist die Altersgrenze. „Schließlich hat keine Generation mehr von Europa profitiert als unsere,“ schreibt Neon. Und weiter geht’s:
„Du bist Teil der europäischen Generation. Anders als deine Eltern bist du nicht in einem Staat aufgewachsen, sondern in einem Staatenbund. Du stehst für Toleranz, bist multikulturell. Willst Du in einem Europa leben, das sich davon entfernt? Dir muss klar sein: Wenn du zulässt, dass Europa kaputtgeht, handelst du gegen deine Chancen, deinen Lebensstil, deine eigene Identität. Du wirst vielleicht später Kinder haben, möchtest du, dass sie dir später vorwerfen, deine Generation habe eine historische Chance verspielt und zugelassen, dass das dunkle Zeitalter des Nationalismus zurückkehrt? …
Wenn jetzt nichts getan wird, starten Zerfallsprozesse, die schwer zu stoppen sind.
Du entscheidest, in welchem Europa wir alle später leben werden5“.

1 Unser Grab erwärmt der Ruhm.
Torenworte! Narrentum!
Eine beßre Wärme gibt
Eine Kuhmagd, die verliebt
Uns mit dicken Lippen küßt
Und beträchtlich riecht nach Mist.
Gleichfalls eine beßre Wärme
Wärmt dem Menschen die Gedärme,
Wenn er Glühwein trinkt und Punsch
Oder Grog nach Herzenswunsch
In den niedrigsten Spelunken,
Unter Dieben und Halunken,
Die dem Galgen sind entlaufen,
Aber leben, atmen, schnaufen,
Und beneidenswerter sind,
Als der Thetis großes Kind –
Der Pelide sprach mit Recht:
Leben wie der ärmste Knecht
In der Oberwelt ist besser,
Als am stygischen Gewässer
Schattenführer sein, ein Heros,
Den besungen selbst Homeros.

Heirich Heine zitiert nach:
https://www.staff.uni-mainz.de/pommeren/Gedichte/HeineNachlese/epilog.htm

2 Wikipedia/Doppelte Buchführung

3 Wikipedia/Regenschirm

4 http://blog.neon.de/2015/10/neon-112015/

5 Das ist insofern etwas ungerecht, weil die hier angesprochene Generation ja eben nicht an den „Schalthebeln der Macht“ sitzt. Viel mehr Verantwortung tragen die Generationen jenseits der 43, die leider in der Lage sind Wahlergebnisse und Politik über Gebühr zu beeinflussen.

Auch interessant:

www.jef.de

http://www.junge-europaeische-bewegung.de/

42 („fourty-two“), nicht 43, ist übrigens die per Computer errechnete Antwort auf die Frage „nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“ (“life, the universe and everything”). Letztlich lässt sich mit der Antwort nichts anfangen, weil niemand weiß, wie die umschriebene Frage eigentlich exakt lautet. Die Antwort 42 (auf eine nicht-mathematische Frage) entstammt aus dem Roman- und der Hörspielreihe „Per Anhalter durch die Galaxis“ von Douglas Adams.

 

*23. Juni 2016
Die Generation Rollator macht Europa kaputt
In der Altersgruppe 18-24 Jahre stimmten 73 Prozent für den
Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union.
25-24: 62 %
35-43: 52 %