Das kalte Herz

Die Neuinterpretation eines alten Märchens.
Aktuell etwas anders.

„Das kalte Herz“ ist ein Märchen von Wilhelm Hauff aus dem Jahre 1827. Die zentrale Figur darin ist Peter Munk, von Beruf Köhler, daher „Kohlenmunk‘s Peter“.
Kurz erzählt geht die Geschichte so: Peter träumt von Geld und Ansehen1. In seiner Not ist er schließlich bereit, dem Holländer Michel, der für das Böse steht, sein Herz zu verpfänden. Dafür erhält Peter das Gewünschte, aber auch ein Herz aus Stein – das kalte Herz. Durch Reue und Umkehr gelingt es ihm gerade noch, sich aus den Fängen des Bösen zu befreien und alles zu Guten zu wenden.

Alles gut?
Ganz und gar nicht.

Als die Wurzel des Bösen erscheint in diesem Märchen der Wunsch des Köhlers nach Geld und Ansehen. Schade, dass Hauff diesen Wunsch total delegitimiert.
Schon richtig – wir leben in einer Zeit, in der das übermäßige Streben nach materiellem Besitz, ja Gier, einiges an Übel hervorgebracht hat. Aber es gibt auch heute noch Millionen, die vor Hunger nicht einschlafen. Es grenzt aus heutiger Sicht an Zynismus, dass Hauff für die Armen, zu denen damals auch die Köhler zählten, keine andere Botschaft parat hat, als „Schuster bleib‘ bei Deinen Leisten“, beziehungsweise „Köhler bleib‘ bei Deinem Meiler“.
Tatsächlich verhält es sich doch so: Der Wunsch nach Geld und Ansehen ist für jemanden wie Kohlenmunk’s Peter vollkommen gerechtfertigt. Es ist eigentlich das was wir heute als soziale Teilhabe bezeichnen. Ganz abgesehen von der Befriedigung der materiellen Grundbedürfnisse, Nahrung, Kleidung, Wohnen.
Für viele ist das ganz und gar nicht selbstverständlich. Damals wie heute.

Damals zählten die Köhler zu den am wenigsten angesehenen Berufen. Am Samstagabend auf dem Dorfplatz zum Tanz zu gehen, der große und eigentlich ganz schlichte Wunsch des Kohlenmunk’s Peter, war daher schon grundsätzlich schwer zu realisieren. Hinzu kamen die praktischen Umstände: Ein Kohlemeiler musste permanent überwacht werden. Der Köhler war ständig dem Qualm ausgesetzt, anzunehmen, dass man das riechen konnte. Man konnte es auch sehen. Vom Umgang mit der Kohle waren die Waldleute permanent schwarz an Händen und am Gesicht. Waschen? Ach ja, wo denn? Die Köhler lebten in einfachen Hütten im Wald. Ohne Wasser. Mit etwas Glück war ein Bach in der Nähe. Und Seife? Was für Seife? Dafür, wie auch für das Tanzvergnügen, brauchte man Geld. Trotz des Verkaufs der Kohle, waren die Köhler extrem arme Leute. Working Poor, wie man heute sagt, also Leute, die Tag und Nacht schufteten und trotzdem arm blieben. In jenen Jahren emigrierten Zigtausende aus dem württembergischen Schwarzwald, Schauplatz des Märchens, in die USA.
Was also ist verwerflich an Peter’s Wunsch, nach etwas einem Minimum am Wohlstand, Musik und Tanz, einem Humpen Bier, ein Mädchen, kurz, nach einem Minimum sozialer Teilhabe?

Heute ist alles ganz anders. Wir haben Riesenfortschritte gemacht. Dennoch ist das Problem Armut nicht aus der Welt, nicht in Afrika, ja nicht einmal in USA und Europa, wo die Zahl der Working Poor wieder stark zunimmt. Fast ein Viertel der Bevölkerung in der Europäischen Union, so das Statistikamt Eurostat, 117 Millionen Menschen, ist von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht2.

In Zukunft wird sich das wohl kaum zum Besseren wenden. Zu viele Arbeitsplätze sind von der Digitalisierung bedroht. Manche meinen sogar, es „knallt“, wenn sich in der Wirtschaftsordnung nicht bald Grundsätzliches ändert. Letztlich sei der Wunsch nach einem „humanen Existenz- und Kulturminimum“ für alle nur mit einem Bedingungslosen Grundeinkommen (BGE) zur erreichen, wie es unter anderem Götz W. Werner, Matthias Weik und Marc Friedrich fordern3.

Bei Peter Munk kommt es unterdessen anders. Er trifft zunächst auf einen guten Geist, das Glasmännle, das ihm drei Wünsche gewährt. Also wünscht er sich zunächst Geld und Tanzkünste, sowie ein Glashütte. Das Glasmännle verweigert ihm aus Ärger über seine Dummheit den dritten Wunsch. Warum eigentlich? Eine florierende Glashütte hätte dem Peter ja dauerhaft ein Auskommen gesichert4.
Hier steckt doch wieder die zynische Botschaft drin: „Bleib bei deinem Meiler im Wald, für etwas anderes bist Du zu dumm“. Noch deutlicher wird das in einer Erzählung von Johann Peter Hebel5, ein Zeitgenosse Hauffs.
Einem armen Bauernpaar werden drei Wünsche gewährt. Diese wollen sie sich eigentlich gut überlegen, aber beim Abendessen sagt die Frau (in einer anderen Version der Mann) arglos „Ach, hätten wir doch dazu eine Bratwurst“. Schwuppdiwupp ist die Wurst da. Der erste Wunsch. Der andere ärgert sich über die „Verschwendung“ eines Wunsches maßlos und sagt „Ach, wenn Dir die Wurst doch an die Nase wachsen würde“. Schwuppdiwupp, der zweite Wunsch. Als dritter Wunsch, bleibt nur, sich die Wurst wieder wegzuwünschen und alles ist wie bisher – Armut und Not sind wieder da. Auch hier die Botschaft Hebels: „Genieße was dir Gott beschieden“ – und wenn es nichts ist, wie bei der Mehrheit der Bauern, Köhler und kleinen Leute der damaligen Zeit.

Warum zwei große deutsche Schriftsteller über die Wünsche, die berechtigten Wünsche,
kleiner Leute so hart und herzlos urteilen ist ein Rätsel.
Vielleicht haben sie „Das kalte Herz“.

 

1 Das kalte Herz, ein Märchen von Wilhelm Hauff
https://de.wikipedia.org/wiki/Das_kalte_Herz

2 Armut und soziale Ausgrenzung in der EU
http://ec.europa.eu/social/main.jsp?langId=de&catId=751
und
Working Poor in Griechenland
 http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/armut-in-griechenland-gruppe-der-working-poor-steigt-rasant-betroffene-erzaehlen-a-1175963.html

3 Sonst knallts

4 Hauff’s Märchen hat ein Happy End. Dem Schriftsteller scheint wohl aufgegangen zu sein, was Working Poor bedeutet. Am Ende lässt er den Peter Munk mit seiner Köhlerei gutes Geld verdienen, so dass sich dieser aus seiner Armut herausarbeiten kann.

5 Drei Wünsche
http://www.hekaya.de/maerchen/drei-wuensche–hebel_11.html