Stille suchen

Wer Stille sucht, muss weit gehen. Oder schwimmen.

Schwimmen? Mit dem Schiff. Mit dem Schiff nämlich macht sich jetzt eine Vielzahl von Leuten auf in die Antarktis.
Sogenannte „Expeditionen“ boomen. Und warum?

Ein Radiospot liefert die Antwort. Da hieß es, eine Reise in die Antarktis mache man nicht, um andere zu beeindrucken, sondern um die Stille zu genießen1.

Kein Wunder. 113 Millionen Europäer leiden Tag und Nacht unter Lärm. Vor allem unter dem ständig zunehmenden Straßenverkehrslärm, eine der Ursachen von 12.000 vorzeitigen Todesfällen, so die Europäische Umweltagentur2.
Straßenverkehrs-, Nachbarschafts-, Industrie- und Gewerbe-, Flugverkehrs- sowie Schienenverkehrslärm sind dem Umweltbundesamt zufolge die fünf am häufigsten genannten Lärmquellen3.

Allerdings ist es erstaunlich, wie weit man schon reisen muss, um Stille zu finden. Die Antarktis – das ist ganz schön weit. Weiter geht’s eigentlich nicht auf diesem Planeten Auf der Webseite entfernungsrechner.net4 heißt es: „Die Strecke (Distanz bzw. Entfernung) zwischen Deutschland und Antarktis beträgt Luftlinie circa 16.327 km (Kilometer). Mit der Bahn oder dem Auto ist die effektive Strecke nach Antarktis höchstwahrscheinlich länger, da hier nur die direkte Strecke (Luftlinie) von Deutschland nach Antarktis berechnet wurde.“

Da muss man sich doch fragen, ob es Stille nicht an einem näher liegenden Ort gibt. Also an einem Ort, der zu Fuß oder mit dem Fahrrad (beide Fortbewegungsarten erzeugen selbst keinen Lärm) erreichbar ist. Der Ort müsste also hinreichend weit von Flugplätzen und Straßen entfernt sein. Wobei ein gewisses Grundrauschen der transkontinentalen Fliegerei immer da ist. Das Gespinst von Kondensstreifen am Himmel macht das deutlich. Aber: Auch des Einflusses von Straßen kann man sich hierzulande nicht so leicht entziehen. Um eine Straße weder mit den Augen, Ohren oder mit der Nase wahrzunehmen, sollte die Entfernung von ihr, je nach Jahreszeit (Bäume), Fahrzeugen (Motorräder) und Fahrweise (Autobahn), mindestens ein Kilometer betragen. Das würde für die Mitte einer zwei Mal zwei Kilometer großen Fläche gelten. Vier Quadratkilometer. Das Problem: Solche Flächen gibt es kaum noch, zumindest nicht dort, wo die meisten Menschen leben.

Wobei das nicht ausschließlich ein Problem von erholungssuchenden Menschen ist. Die „Natur“ leidet ebenfalls.
Eine der wichtigsten Ursachen für den dramatischen Rückgang der Arten ist die Zerstörung der Lebensräume. Straßen, Bahnlinien, Siedlungen, Monokulturen. Überall. Biologen sprechen von Habitatfragmentierung.

Eine elegante Lösung des Problems wäre, größere Flächen zu schaffen.
Flächen mit mehr Ruhe.
Mehr Stille. Auch ein Tempolimit würde Wunder wirken.

Die Stille in der Ferne zu suchen, ist keine Lösung.

Allein durch die Anreise entsteht so viel CO2, dass man die Erderwärmung spüren kann5. Denn die Expeditionsschiffe starten ja nicht in Hamburg, Southampton, Le Havre oder New York. Sie starten meist in Südamerika, zum Beispiel von Ushuaia aus. Beim Flug dorthin von Frankfurt aus lagert jeder Passagier 10,25 Tonnen CO2 in der Atmosphäre ab. Das ist viermal so viel wie das klimafreundliche Budget eines Menschen pro Jahr6.

Hinzu kommt, dass die Antarktis ökologisch gesehen eine hochsensible Zone ist. Der Polarforscher Arved Fuchs7 sagt, dass es mittlerweile eine Art Massentourismus gebe. „Und das halte ich wirklich für gefährlich, weil dieser Kontinent ökologisch hochsensibel ist.“ Malte Siegert vom Naturschutzbund Deutschland (Nabu) ergänzt, er halte Kreuzfahrten, die mit dem berechtigten Wunsch nach Erholung ohnehin nichts zu tun hätten, in die Polarregionen für ein „No-Go“. „Die Polkappen schmelzen in rasender Geschwindigkeit. Die Schiffe verteilen Ruß über das Eis und beschleunigen so den Prozess“, erklärt der Umweltexperte im NDR8. Stellen wir uns vor, wir wären ein Pinguin und alle Nase lang kommt ein Kreuzfahrtschiff vorbei, das Lärm und Gestank verbreitet. Habitatfragmentierung nun auch in der Antarktis.

Ja, unter Umständen kann man sich eine Fernreise gönnen, um etwas zu sehen, zu erleben. Aber in die Antarktis? Wer in eine Suchmaschine „Reisetipps Italien“ (keine Fernreise, aber ein Beispiel) eingibt, erhält sechs Millionen Treffer, wer „Reisetipps Antarktis“ eingibt, landet bei 60.000 Treffern. Was gibt es da schon? Stille ist zu wenig.

Bild von melissa2760 auf Pixabay

 

 

1 Radiowerbung auf SWR1 im Dezember 2019

2 tagesschau.de, 5.03.2020: Mindestens jeder fünfte leidet unter Lärm
https://www.tagesschau.de/ausland/studie-laerm-101.html

3 Umweltbundesamt / Lärmbelästigung (18.06.2019)
https://www.umweltbundesamt.de/themen/verkehr-laerm/laermwirkung/laermbelaestigung

4 enfernungsrechner.de

https://www.entfernungsrechner.net/de/distance/country/de/country/aq

5 zdf.de, 14.02.2020: Hitzerekord in der Antarktis
https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/rekordtemperatur-antarktis-20-grad-klimawandel-100.html

6 atmosfair.de
https://www.atmosfair.de/de/kompensieren/flug

7 br.de (Bayerischer Rundfunk), 13.02.2020: Polarforscher Fuchs kritisiert Massentourismus in der Antarktis
https://www.br.de/nachrichten/wissen/polarforscher-fuchs-kritisiert-massentourismus-in-der-antarktis,RqMSOBg

8 ndr.de, 1.08.2019: Klima kippt, Kreuzfahrt boomt
https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2019/Klima-kippt-Kreuzfahrt-boomt,kreuzfahrtschiffe268.html

 

Lesetipp: Schädliche Rußpartikel / Tourismus beschleunigt die Eisschmelze in der Antarktis
https://www.deutschlandfunk.de/schaedliche-russpartikel-tourismus-beschleunigt-eisschmelze-in-der-antarktis-100.html
(aktualisiert: 25.02.2022)