Nicht um Geld. Warum wir jetzt Coronabonds brauchen.
Ich hätte nicht gedacht, dass ich einmal erfahre, wie der Bürgermeister von Bergamo heißt. Giorgio Gori.
Bergamo ist eine der Städte in Italien, die das Coronavirus am stärksten getroffen hat. Wir erinnern uns mit Schrecken an die Bilder, auf denen Lastwagen der Armee, die Toten abholen, weil die Friedhöfe der Stadt überfüllt sind1.
Initiiert vom Europa-Abgeordneten Carlo Calenda hat Giorgio Gori zusammen mit zehn weiteren Kommunalpolitikern und Bürgermeistern, darunter auch die von Mailand, Genua und Padua, einen dramatischen Appell an die Deutschen und die Niederländer gerichtet2:
Wir brauchen Eurobonds. Um für einen großen europäischen Rettungsplan für Wirtschaft, Gesundheit- und Sozialwesen ausreichend Mittel zu haben.
Eurobonds sind Anleihen, welche die Europäische Union oder die Eurozone gemeinsam herausgeben3. Der Begriff „Coronabonds“ ist in dieser Krise hinzugekommen, weil die Befürworter die Ausnahmesituation und teilweise auch die Zweckgebundenheit (für das Gesundheits- und Sozialwesen) hervorheben wollen. Dennoch sind diese Anleihen ziemlich umstritten. Zu den neun Staaten, die jetzt danach rufen, gehören neben Italien auch Spanien, Frankreich und Belgien. Zu den Staaten, die dem eher ablehnend gegenüber stehen, gehören unter anderem Deutschland und die Niederlande.
Das letzte Wort ist zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Beitrags noch nicht gesprochen, aber Deutschland scheint wohl bei seiner strikten Ablehnung von Coronabonds bleiben zu wollen4.
Das ist nicht gut. Sehen wir es dich einfach mal so: Ein Freund ist in Not und sagt, er brauche, sagen wir, Atemschutzmasken5. Der andere meint, ja, er helfe dir, aber Du brauchst keine Atemschutzmasken, sondern Schutzhelme. Und zwar gelbe. Damit outet er sich nicht nur als Geizkragen, sondern auch als Besserwisser. Ja, es gibt schon noch andere Finanzierungsinstrumente, zum Beispiel den Europäischen Stabilitätsmechanismus6 (ESM). Daran sind jedoch meist Reformbedingungen geknüpft. Dahinter verbirgt sich oft der Vorwurf, die, die jetzt Geld benötigen, hätten schlecht gewirtschaftet. Das geht in der Coronakrise gar nicht. „Deutschland ist unsolidarisch, kleingeistig und feige“, schreibt Steffen Klusmann im Spiegel7. Ein Leserbriefschreiber im Schwäbischen Tagblatt: „Deutschland setzt Europa aufs Spiel, aus seelischer Enge und Trägheit und Angst vor Rechtsaußen. Es verhält sich politisch fahrlässig, ökonomisch widersinnig und moralisch unanständig8“. Andere sagen, Europa stehe auf der Kippe und wir reden über Haushaltsdisziplin9.
Genau das ist es, was man in Deutschland nicht verstanden hat: Europa steht auf der Kippe. Und da wir am meisten auf Europa angewiesen sind (freie Menschen, freie Märkte, Frieden), geht es um uns.
Europa steht aber noch aus anderen Gründen, nicht nur wegen Corona, auf der Kippe. Wir haben uns noch lange nicht vom Brexit-Schock erholt, der Orbanismus greift um sich und die Angriffe von außen nehmen zu. Die Angreifer sind: China, Russland und leider manchmal auch die USA, zumindest unter der derzeitigen Regierung.
Vor allem China versucht aus der schwierigen Lage Europas politisches Kapital zu schlagen. Der chinesische Botschafter in Paris twittert (in seiner Heimat ist Twitter blockiert) eifrig, wie sehr das chinesische Gesellschaftsmodell dem westlich-demokratischen überlegen sei. Die Corona-Krise zeige, dass Gemeinschaftsgeist und Bürgersinn im Westen abhanden gekommen seien10.
In russischen Medien heißt es, die EU sei am Ende. Die EU-Staaten seien nicht in der Lage, einander zu helfen, stattdessen bekämen sie Hilfe aus Russland und China11.
Tatsächlich ist es in einer offenen, demokratischen Gesellschaft schwieriger einen Shutdown zu organisieren, als in einem autoritären System. Tatsächlich beneiden sie uns aber um diese Offenheit, um Wohlstand, Recht, Pressefreiheit und freie Grenzen. Vielleicht glauben sie, vor allem China, alte Rechnungen aus der Geschichte offen zu haben.
Deswegen müssen wir zeigen, dass wir das bessere System sind. Und das vor allem mit gegenseitigen Hilfen und offenen Grenzen, damit der Personen- und Warenverkehr wie das Blut in einem gesunden Körper ungehindert fließen kann.
Olga Tokarczuk, Literatur-Nobelpreisträgerin aus Polen, schreibt bedauernd: In diesem schwierigen Augenblick zeige sich, wie schwach die Idee einer europäischen Gemeinschaft in der Praxis ist. Die EU habe im Grunde kapituliert und es den Nationalstaaten überlassen, in dieser Krisenzeit Entscheidungen zu fällen. Die Schließung der Grenzen halte sie für die größte Niederlage in diesen schlechten Zeiten; zurückgekehrt sind die alten Egoismen und die Kategorien „eigen“ und „fremd“, jenes also, was wir in der Hoffnung bekämpft hatten, dass es nie wieder unser Denken formatieren würde. Die Angst vor dem Virus hat automatisch die einfachste, atavistische Überzeugung wachgerufen, „Fremde“ seien schuld und sie würden immer Gefahren mitbringen12.
Daher gilt es jetzt, solidarisch zu handeln, Europa zu stärken und sei es durch Coronabonds. Zugegeben, noch mehr neue Schulden sind eine heikle Angelegenheit, die vor allem Ökonomen kritisch sehen13. Leichter tun sich Künstler, Schriftsteller, Verleger und Forscher. Sie fordern in einem offenen Brief Corona-Bonds als „konkrete, sofortige Solidarität“. Europa habe uns alles gegeben, was wir sind – jetzt sei es auch an uns, zurückzugeben14.
In dem Appell, den Giorgio Gori und seine Bürgermeisterkollegen an uns richten, heißt es treffend:
Wir können nun alle beweisen, dass Europa stärker ist, stärker als diejenigen, die Europa schwächen wollen.
Bild von Jürgen Jester auf Pixabay
1 tagesspiegel.de, 19.03.2020: Armee transportiert Leichen mit Lkw ab – Ausnahmezustand im Land verlängert
https://www.tagesspiegel.de/politik/italien-mit-hoechstzahl-an-corona-toten-armee-transportiert-leichen-mit-lkw-ab-ausnahmezustand-im-land-verlaengert/25660522.html
2 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.03.2020 (Anzeige)
3 merkur.de, 1.04.2020: Was sind Corona-Bonds? Italien schaltet Werbeanzeige und setzt Merkel unter Druck
https://www.merkur.de/wirtschaft/corona-bonds-euro-bond-was-ist-eu-italien-deutschland-wirtschaft-schulden-krise-rezession-spanien-13636155.html
4 spiegel.de, 5.04.2020: „Deutschland beharrt auf Nein zu Corona-Bonds“
https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/corona-bonds-bundesregierung-bekraeftigt-ablehnung-a-53f2a896-b8fd-44fe-b4da-d6e82f489958
5 Zu Beginn der Krise hat Deutschland tatsächlich mit einem Exportverbot verhindert, dass Atemschutzmasken nach Italien geliefert werden. Das ist in Südeuropa auf Unmut gestoßen.
(Südwest Presse, 16.03.2020 „Atemmasken dürfen nach Italien“)
6 Wikipedia-Eintrag „Europäischer Stabilitätsmechanismus“
https://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ischer_Stabilit%C3%A4tsmechanismus
7 Der Spiegel, Nr. 15 vom 4.04.2020
8 Schwäbisches Tagblatt, 2.04.2020
9 DLF, 1.04.2020
https://www.deutschlandfunk.de/deutschlandfunk-alles-von-relevanz.4210.de.html
10 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.04.2020: „Schlacht der Narrative – Chinas Botschafter in Paris versucht in einer großangelegten Twitter-Offensive, Frankreich und die westlichen Demokratien als unfähig im Kampf gegen die Corona-Pandemie darzustellen.“
11 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.04.2020: „Händewaschen nutzt nichts – EU: Viele Fälle von Desinformation aus Russland.
12 faz.net, 31.03.2020 „Jetzt kommen neue Zeiten“
https://zeitung.faz.net/faz/feuilleton/2020-03-31/f6cdac5e0cd0d734b0d616301a0514cd/?GEPC=s5
13 Auch in diesem Blog findet sich oft die Warnung vor einer Schuldenkrise, die eine schwere Last für künftige Generationen bedeutet. Die Gefahr, die Europäische Union könnte ernsthaft Schaden nehmen, halte ich jedoch für eine noch schwere Last.
14 spiegel.de, 1.04.2020: „Künstler und Forscher fordern Corona-Bonds“