Wende in Weitingen – Der journalistische Essay

Das Dorf mit dem Ökostromüberschuss

Die Stromrebellen aus dem Schwarzwald haben mal richtig für Aufruhr gesorgt. Das Dorf Schönau¹ stellte als eine der ersten Gemeinden in Deutschland eine ökologische Energieversorgung auf die Beine. Aber es gibt ein weiteres Dorf im Schwarzwald, das in Sachen Ökostrom Bemerkenswertes leistet: Weitingen². Hier produzieren sie mehr als doppelt so viel Strom (6 Mio. kWh) im Jahr wie sie selber verbrauchen (2,5 Mio. kWh). Und zwar mit (fast) allen verfügbaren Mitteln: Wind, Sonne, Wasser, Biogas. Das ist, nach Angaben der Gemeinde, in Baden-Württemberg einzigartig.

Weitingen, ein Ortsteil der Gemeinde Eutingen im Gäu, liegt ganz im Osten des Landkreises Freudenstadt auf der so genannten Gäuhochebene. Im Süden des Gemeindegebiets fließt der Neckar über die Gemarkung. Die ganze Gegend ist noch recht landwirtschaftlich geprägt.
Das ist insofern relevant, weil ja die geographischen Gegebenheiten stimmen müssen. Die Sonne scheint überall, ohne Fluss jedoch keine Wasserkraft etc. Insofern taugt das Dorf nur bedingt als Modell. Beispielhaft ist aber auf jeden Fall das Engagement der Bürger.

Das begann Ende der Neunziger des vorigen Jahrhunderts mit dem Wind. 33 Bürgerinnen und Bürger haben sich zu einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) zusammen geschlossen, um ein Windkraftwerk zu errichten. 1998 durchaus noch ein Wagnis. Zwar garantierte das Stromeinspeisungsgesetz, der Vorläufer des EEG, die Abnahme der erzeugten Stroms, doch die Technologie war gerade erst den Kinderschuhen entwachsen. 1990 war das erste Jahr mit nennenswerter Windstromerzeugung: 72 GWh. 1998 leistete das weithin sichtbare Weitinger Windrad erstmals einen Beitrag von 0,55 Mio. kWh zur deutschen Gesamtbilanz von 4579 GWh. Das waren erst 0,8 Prozent des gesamten deutschen Bruttostromverbrauchs³. 2019 erzeugten die deutschen Windkraftanlagen 124.000 GWh, das waren fast 20 Prozent des Bruttostromverbrauchs⁴.
Welch ein Fortschritt! Allerdings liegt die Nennleistung großer Anlagen onshore heute bereits um die sechs MW. Das zehnfache der Anlage auf der Gäuhochfläche, die mit einer Gesamthöhe von 82 Metern dennoch als Wahrzeichen der Ortschaft gilt.

Das kann man vom „Solarpark Hirtenhaus“ nicht sagen. Obwohl zwei Hektar groß ist die Anlage kaum sichtbar. Sie liegt „hinter“ der Autobahn am Waldrand, ein begrünter Erdwall verstellt den Blick. Wer auf diesen Wall steigt, hat aber eine gute Aussicht auf die 4248 Module, die jährlich 1,1 Mio. kWh liefern, was rechnerisch für 300 Haushalte reicht. Die Gemeinde Eutingen im Gäu und der Energiehof Weitenau haben rund 700.000 Euro in die 1-MW-Anlage investiert.
Die Größe von rund zwei Hektar könnte man vielleicht im Hinterkopf behalten, um die Dimensionen des geplanten größten Solarparks der Welt einordnen zu können: Im Norden Australiens entsteht eine Solarfarm mit 12.000 Hektar, die von 2027 an Strom nach Singapur liefern soll⁵.

Zurück zum Energiehof Weitenau: Der liefert nicht nur Solarstrom sondern betreibt außerdem eine Biogasanlage. Mit 4,0 Mio. kWh liefert sie den Großteil des hier erzeugten Stroms. Dafür kommen jährlich 11.000 t Biomasse von den umliegenden Feldern.
Somit brauchen die Weitinger keine Angst vor der Dunkelflaute zu haben. Grundlastfähig ist nicht nur die Biogasanlage – ein Wasserkraftwerk liefert ebenfalls (fast) immer Strom, genau gesagt 0,8 Mio. kWh im Jahr. Das Kraftwerk liegt am Neckar. Dessen Fließkraft, rund vier bis fünf Kubikmeter pro Sekunde sind optimal, haben die Menschen hier schon im 17. Jahrhundert als Mühle genutzt. Die heute verwendete Turbine von Voith stammt aus dem Jahr 1950.

Die Weitinger Mühle ist ein guter Einstieg in einen Wanderweg – den Energielehrpfad⁶. In drei Stunden führt dieser knapp elf Kilometer lange Weg zu allen vier Kraftwerksstandorten. Die Infotafeln machen die Tour zu einem Grundkurs für regenerative Energieerzeugung.