Landwirtschaft: Ein Buch zeigt beide Seiten des Apfelanbaus in Südtirol.
Ein Morgen im Mai. Alles ist hell. Blauer Himmel, wogende, noch grüne, Weizenfelder, grüne Wiesen, Vögel singen. Und der Landwirt sorgt für das tägliche Brot.
Alles okay, oder? Schon, wenn man nur die helle Seite sieht.
Es gibt jedoch noch eine dunkle Seite. Die Felder zu groß. Die Maschinen zu groß. Monokulturen. Weizen. Raps. Mais. Selbst die Wiesen. Für Insekten wirken sie wie unpassierbare Wüsten. Der Einsatz von Pestiziden, Herbiziden und zu viel Dünger gibt uns den Rest.
In Südtirol sind es im April und Mai vor allem die Apfelbäume, welche die Landschaft in ein weiß-rosa Blütenmeer verwandeln. Das ist die helle Seite.
Die dunkle Seite in diesem Landstrich zeigt uns der Dokumentarfilmer und Autor Alexander Schiebel: Monokulturen, Betonpfeiler so weit das Auge reicht, Pestizide und Herbizide in sintflutartigen Mengen.
Wie das genau ist, steht in dem Buch „Das Wunder von Mals“ aus dem Oekom Verlag1 in München. (Untertitel: „Wie ein Dorf der Agrarindustrie die Stirn bietet“ und „Eine Anleitung zum Widerstand“.
Vorweg: Man hat beim Lesen nicht den Eindruck, Schiebel stelle speziell die Südtiroler Apfelbauern an den Pranger. Wer am Pranger steht, und da vielleicht auch hingehört, ist die industrielle Landwirtschaft. Egal wo.
Nach nur einem Tag Recherche, Wissenschaftler würden das Metastudie nennen, da ja alles gründlich erforscht ist, hat er keinen Zweifel daran, dass die Idee der landwirtschaftlichen Massenproduktion in Natur und Gesellschaft eine Spur der Verwüstung hinterlässt.
„Die Idee der Massenproduktion ist nicht auf die Natur übertragbar“, so Schiebel nach einem Interview mit dem Schweizer Agrarwissenschaftler Hans Rudolf Herren. Eine Massenproduktion sei nur durch externe Inputs möglich, wie zum Beispiel Düngemittel und Herbizide. So gingen die Böden kaputt und die Produktion langfristig zurück.
Herren sagt außerdem, die industrielle Landwirtschaft verbrauche mehr Energie als sie produziere und trage so einiges zur Klimakrise bei. Manche behaupten ja, gefährlicher als die Klimakrise sei der Verlust der Biodiversität. Dafür sind in erster Linie Monokulturen, die Reduktion auf wenige Arten von Nutzpflanzen und Nutztieren sowie der Einsatz der chemischen Keule verantwortlich.
Die chemische Keule bringt in der italienischen Gemeinde Malles Venosta (deutsch: Mals) den Stein des Widerstands ins Rollen. Mals liegt im Vinschgau in Südtirol, eine Gegend, die nicht nur vom Tourismus, sondern auch stark vom Apfelanbau geprägt ist. Einigen Malsern missfällt der weitgehend industrielle Anbau von Äpfeln. Zum einen zerstöre das die Landschaft, auf lange Sicht sogar den Tourismus, zum anderen bringen die Bauern große Mengen an Spritzmitteln aus, was der Gesundheit, dem Grundwasser und dem Anbau von Bioprodukten sehr schadet. Die Malser organisieren eine Volksabstimmung, in der sich 76 Prozent der Stimmbürger gegen den Einsatz von Pestiziden auf ihrem Gemeindegebiet aussprechen. Die Geschichte dieses Kampfes, der letztlich nicht in allen Punkten zum Sieg führte, erzählt Alexander Schiebel in seinem Buch „Das Wunder von Mals“ bzw. im gleichnamigen Film2.
Wie gesagt, die Malser haben nicht umfassend gesiegt, aber sie haben einen Weg gezeigt, wie es gehen kann und muss. Es werde mit Sicherheit katastrophale Folgen haben, wenn „wir“ nicht sofort etwas unternehmen. Hans Rudolf Herren: „Und dieses Etwas besteht darin, die Landwirtschaft zu 100 Prozent auf Agrarökologie umzustellen. Eine solche Landwirtschaft wäre nicht nur kohlenstoffneutral, sie würde darüber hinaus noch sehr viel Kohlenstoff, der bereits in die Atmosphäre gelangt ist, wieder in den Boden binden. Das kann nur die Landwirtschaft“.
Die Forstwirtschaft freilich ebenso, aber all das ist nicht neu. Der Agrarwissenschaftler und Landwirt Felix zu Löwenstein sagt, wir würden uns künftig „bio“ ernähren – oder gar nicht3. Nach Angaben von Alexander Schiebel steht nichts anderes im Weltagrarbericht, der betont, die Zukunft sei die bäuerliche Landwirtschaft, nicht die industrielle4.
Als weitere gangbare Wege5 alternativ zur industriellen Landwirtschaft gelten neben der ökologischen und der so genannten „Bäuerlichen Landwirtschaft“ vor allem die „Solidarische Landwirtschaft (Solawi)“ sowie die „enkeltaugliche Landwirtschaft“.
Übrigens heißt es im Wikipedia-Eintrag zur bäuerlichen Landwirtschaft, sie diene als Gegenmodell zur industriellen Landwirtschaft, die auf ökonomischen Gewinn und Produktivität ausgerichtet sei. In Wahrheit funktioniert die industrielle Landwirtschaft überhaupt nicht nach betriebswirtschaftlicher Logik. Sie lebt von Subventionen. Leider. Eigentlich müsste sie kalkulieren wie alle anderen Branchen, schreibt Alexander Schiebel und nennt als Beispiel den Schreiner. Holz, Farbe, Schrauben, Arbeit, Gewinn – so entsteht der Preis für einen Tisch. Oder die Autoindustrie: Material, Arbeit, Gewinn, so entsteht, vereinfacht, der Preis für ein Auto und siehe da – der Verbraucher zahlt. Der Vergleich Auto-/Agrarindustrie stammt aus einem interessanten Buch mit dem Titel „No Car“ von Salomon Scharffenberg6. Wie Scharffenberg fragt Schiebel, warum das bei Autos bzw. Möbeln funktioniert, nicht aber bei Äpfeln. Ein riesiges gesellschaftliches Manko. Obwohl, wir würden uns wundern was landwirtschaftliche Produkte kosten, würden sie ehrlich kalkuliert. Spottpreise für Obst und Gemüse, Milch und Brot, Fleisch und Wurst sind nur möglich, weil die Bauern subventioniert werden und weil eine oligopolistische Abnehmerstruktur die Preise ins Bodenlose drückt7.
Wenig übrig hat Schiebel für Gegenargumente. Mit einer Zwischenüberschrift bringt er das auf den Punkt: „Leugnen, ausweichen, beschuldigen – die Pseudorhetorik der Obstanbau-Lobby“. Das ist, wenn man so von seiner Sache überzeugt ist, zu verschmerzen.
Was beim Lesen des Buchs gelegentlich weh tut, ist das allzu Persönliche. Wen interessiert das, ob er auf dem Weg zu einem Interview zum ersten Mal im Leben Schneeketten aufgezogen hat oder auf dem Rückweg geblitzt wurde? Formulierungen wie „frage ich in leicht scherzhaften Ton“, „frage ich augenzwinkernd“ oder „wir lachen nun beide“ passen eher in einen mäßigen Unterhaltungsroman als in ein gutes Sachbuch. Allerdings schreibt Schiebel, er habe bewusst einen sehr persönlichen Blickwinkel gewählt. Was man dem Verlag anlasten muss, nicht dem Autor, ist a) die kleine Schrift, b) der Grauton, der die Lektüre mitunter erschwert. Schwarz auf weiß steht da nichts.
Einen ungewöhnlichen Blickwinkel erlaubt der Autor dem Leser auf seine Finanzen: Er ist vollkommen pleite. Dazu muss man wissen, dass die Südtirolmarketing-Agentur die wichtigste Auftraggeberin des freien Dokumentarfilmers gewesen ist. Die Agentur hat ihn dafür bezahlt, dass er Südtirol von seinen schönsten und hellsten Seiten zeigt. Als Schiebel davon überzeugt war, dass die Region auch ihre dunklen Seiten hat, nämlich den giftlastigen industriellen Apfelanbau, war es vorbei mit den Aufträgen. Nicht zuletzt wegen des Erfolges mit Buch und Film über Mals hat sich das wohl gefügt. Es ist durchaus erwähnenswert, und zwar mit Respekt, wenn ein Journalist, der von seiner Sache überzeugt ist, etwas riskiert.
Das bringt uns zu der Frage, wie es eigentlich weitergeht. Zunächst mit einem Prozess vor dem Landesgericht in Bozen: Arnold Schuler, ehemals stellvertretender Südtiroler Landeshauptmann und Landesrat für Landwirtschaft, verklagte mit Unterstützung der Apfelbauern den Buch- und Filmautor Alexander Schiebel, den Oekom-Verleger Jacob Radloff sowie das Umweltinstitut München8 wegen übler Nachrede zum Schaden der Südtiroler Obstwirtschaft. Bemerkenswert ist, dass es nach Ansicht der Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatovic, nicht darum geht, den Prozess zu gewinnen, sondern um den Beklagten Zeit, Energie und finanzielle Ressourcen zu rauben, um Kritik zu unterdrücken.
Das Börsenblatt9, Fachmagazin der Buchbranche, sieht in dem Vorgang einen Angriff auf die Meinungsfreiheit, die Süddeutsche Zeitung10 nennt das ganze eine „Provinzposse“. Die namentlich Alexander Schiebel eher nicht lustig findet. Der Prozess gegen ihn findet im Januar 2021 statt. In der Sache Jacob Radloff hat das Gericht das Verfahren mangels Beweisen eingestellt11.
Obwohl sich die Akteure nun vor Gericht treffen und obwohl dieser Beitrag mit „Hell und dunkel“ überschrieben ist, soll es abschließend nicht so aussehen, als ginge es hier um „Gut“ und „Böse“. Immerhin sind die meisten Südtiroler Obstbauern, wenn man das, was auf ihrer Webseite steht, glauben darf, genau die Sorte Bauern, die wir eigentlich brauchen: Familienbetriebe, mit knapp drei Hektar Land, was heutzutage andernorts gerade mal reicht, um mit einem Mähdrescher zu wenden. Also Kleinbauern. Und begriffsstutzig sind sie ja gleich gar nicht: Nach eigenen Angaben sind sie „tief mit der Natur verbunden“ und produzieren zehn Prozent ihrer Äpfel nach biologischen Richtlinien12. Eigentlich müssten sie sich mit den Leuten aus Mals prima verstehen. Eigentlich müssten sich die Hand reichen.
1 Alexander Schiebel, „Das Wunder von Mals“, Oekom Verlag München 2017
https://www.oekom.de/buch/das-wunder-von-mals-9783960060147
2 Die Webseite: Das Wunder von Mals – der Agrarlobby Widerstand leisten
http://wundervonmals.com/
3 Felix zu Löwenstein, „Foodcrash“, Pattloch Verlag, München 2011
4 Wege aus der Hungerkrise – die Erkenntnisse des Weltagrarberichts und seine Vorschläge für die Landwirtschaft von morgen
https://www.weltagrarbericht.de/
Zum Thema „Weltagrarbericht“:
Erläuterungen des Verbandes Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe (VENRO) mit Link zur Quelle
http://blog.venro.org/welternaehrungsbericht-2020-corona-laesst-die-zahl-der-hungernden-steigen/
5 Wikipedia-Eintrag „Bäuerliche Landwirtschaft“
https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%A4uerliche_Landwirtschaft
Wikipedia-Eintrag „Solidarische Landwirtschaft“
https://de.wikipedia.org/wiki/Solidarische_Landwirtschaft
„enkeltaugliche Landwirtschaft“
https://www.enkeltauglich.bio/
6 Salomon Scharffenberg, „No Car – eine Streitschrift für die Mobilität der Zukunft“, Oekom Verlag München 2017
https://www.oekom.de/buch/no-car-9783962381707
7 siehe auch „Danke, Discounter“
http://zabota.de/?p=868
8 Umweltinstitut München
https://www.umweltinstitut.org/home.html
Das Institut hat im Sommer 2017 eine eigene Kampagne mit dem Titel „Pestizidtirol“ angepackt. In deren Rahmen platzierte die Umweltorganisation ein Plakat in der bayerischen Hauptstadt, das eine Tourismus-Marketing-Kampagne für Südtirol satirisch verfremdete. Zusammen mit einer Website hatte die Kampagne zum Ziel, auf den hohen Pestizideinsatz in der beliebten Urlaubsregion aufmerksam zu machen. Für den Text auf der Website steht der Agrarreferent des Instituts, Karl Bär, in Bozen vor Gericht.
9 boersenblatt.net, 29.10.2020: Gericht stellt Verfahren gegen Oekom-Verleger ein
https://www.boersenblatt.net/home/gericht-stellt-verfahren-gegen-oekom-verleger-ein-153033
10 sueddeutsche.de, 30.10.2020: Frei und ein grünes Gewissen
https://www.sueddeutsche.de/muenchen/von-der-nische-zum-mainstream-frei-und-ein-gruenes-gewissen-1.5099150
11 Aktuelles und die Hintergründe auf der Oekom-Webseite
https://www.oekom.de/themen/pestizidfreie-gemeinde-das-wunder-von-mals/c-340
12 suedtirolerapfel.com: Biologischer Anbau
https://www.suedtirolerapfel.com/de/suedtirol-und-der-apfelanbau/anbaumethoden/biologischer-anbau.html