5,75 Euro für Salih

sm kisten schleppen IDer Mindestlohn (fast) ohne Ausnahmen
hat die Lebensbedingungen vieler Menschen
(wie geplant) verbessert. Über Ausnahmen
sollten wir jetzt wieder dringend nachdenken:
Ausnahmen für Flüchtlinge.


Nicht nur für Salih, 32, der aus Syrien (Name von der Redaktion geändert) nach Deutschland kam, hat sich das Leben dramatisch verändert. Nein, für uns alle. Millionen neue Nachbarn, Millionen neue Bewerber um einen Arbeitsplatz. Das ist für jeden einzelnen und für die Volkswirtschaft als Ganzes eine echte Herausforderung.

Denn bereits jetzt finden rund drei Millionen1 Menschen in Deutschland keine Arbeit. Zu den drei Millionen kommt nun eine weitere Million hinzu: Flüchtlinge. Zwar gibt es grundsätzlich Anlass, diese Menschen auch aus volkswirtschaftlichen Gründen willkommen zu heißen, weil hier ein gewisses Potenzial steckt, zwei große Probleme der deutschen Wirtschaft zu lindern: a) das demographische Problem, b) das Problem des sogenannten Fachkräftemangels.

Derzeit sieht es aber danach aus, als ob das Gros der Flüchtlinge zunächst nur für einfache Tätigkeiten qualifiziert wäre. Somit steigt einerseits die Nachfrage nach solchen Tätigkeiten enorm, andererseits ist das Angebot an einfachen Tätigkeiten in unserer hochkomplexen und spezialisierten Volkswirtschaft gering, mit sinkender Tendenz2.

Theoretisch würde bei einem Überangebot an Arbeitskräften der Preis der Arbeit, also der Lohn, sinken. Um das zu verhindern gibt es in den meisten europäischen Ländern und den USA einen Mindestlohn, zuletzt auch in Deutschland mit 8,50 Euro pro Stunde. Wer den Roman „Früchte des Zorns“ von John Steinbeck kennt3, weiß, dass ein dem Markt überlassenes Lohnniveau zur Verelendung großer Teile der Bevölkerung führen kann.

Große Teile der Gesellschaft, beispielsweise Arbeitgeber, Bauern und viele Ökonomen wie z. B. Hans-Werner Sinn, haben den Mindestlohn4 vehement abgelehnt. Sie fürchteten eine Verteuerung der Arbeit und den Verlust von Arbeitsplätzen, was weitgehend ausgeblieben ist. Ausnahmen vom Mindestlohn forderten viele, gewährt wurden sie wenigen, unter anderen als Übergangslösung den Bauern. Natürlich gilt: Je mehr Ausnahmen, desto sinnloser der Mindestlohn.

Nun gibt es eine neue Diskussion über eine große Ausnahme: eine Ausnahme für Flüchtlinge. Es handelt sich ja auch um eine politisch-historische Ausnahmesituation.

Mit den Flüchtlingen ist ein neues Argument hinzugekommen. Bisher sollte der Mindestlohn nur ein bestimmtes Existenzniveau sichern, jetzt soll die Integration erleichtern. Genau genommen ist es sogar so, dass ein Arbeitsplatz der wichtigste Integrationsfaktor überhaupt ist, die Flüchtlinge an der Sicherung des Lebensunterhalts beteiligt und ihnen dadurch auch Würde gibt.

Eine Ausnahme vom Mindestlohn hat Konsequenzen für Arbeitgeber, für die „einheimischen“ Arbeitslosen und für die Flüchtlinge selbst.

Den Arbeitgebern, also den Unternehmen, waren bisher schon 8,50 Euro unter Umständen zu viel. Wobei der Mindestlohn auch höher sein kann: Der Personalleiter eines Automobilzulieferers berichtete vor kurzem, er habe zwei Flüchtlinge als Produktionshelfer einstellen wollen. Die Agentur für Arbeit hat dem Betrieb, der in Baden-Württemberg angesiedelt ist, einen Mindestlohn von 11,50 Euro vorgeschrieben. Die Agentur für Arbeit teilte dazu mit, es handle sich unabhängig vom Einzelfall, um den ortsüblichen Lohn bzw. das ortsübliche Arbeitsentgelt. Damit solle Sorge getragen werden, dass es zu keinerlei Ungerechtigkeit kommt und Arbeitgeber nur den Mindestlohn zahlen, wenn der Lohn eigentlich ortsüblich höher wäre. Es diene also dem Schutz der Flüchtlinge und anderer, die sich um die Arbeitsplätze bewerben. Also 11,50 Euro. Der Personalleiter sagt, er könne für eine ganz einfache Tätigkeit in der Produktion, keine 11,50 Euro bezahlen, das sei für einen kleinen Mittelständler zu viel – es würde auch zu erheblichem Unmut bei allen in der Produktion beschäftigten führen. Damit ist klar: für 11,50 oder 8,50 Euro, wobei das ja nur ein Teil der Arbeitskosten ist, wird kein Betrieb einen Flüchtling einstellen.

Unklar ist, wo die Schwelle liegt, von der an Flüchtlinge Arbeit finden. Mal angenommen, wir würden die Hälfte des besonders hohen Niveaus in Baden-Württemberg ansetzen, also 5,75 Euro. Damit käme man den Arbeitgebern, ohne die es nicht geht, weit entgegen und könnte im Gegenzug viele neue Arbeitsplätze für Flüchtlinge erwarten. Wäre das nicht der Fall, bleibt immer noch die Idee einer Quote5.

Um die Unklarheit zu beseitigen, sollte man es einfach mal mit dieser Ausnahme vom Mindestlohn versuchen! Mal sehen was passiert und wenn es nicht gut ist, rudern wir zurück, was im Übrigen auch keine Schande wäre.

Auch wenn die Arbeitgeber jammern – die dramatischsten Konsequenzen dieser Maßnahme tragen vermutlich die hiesigen Arbeitslosen, gewissermaßen die „Altarbeitslosen“. Sie schlügen mit 8,50 Euro zu buche, Flüchtlinge mit 5,75 Euro. Deutsche Arbeitslose haben in der Regel immer noch den Vorteil der Sprache, der ihnen bisher aber nichts genützt hat. Was es für den sozialen Frieden bedeutet, wenn die Lohnunterschiede bleiben, Flüchtlinge also scheinbar besser gestellt sind, oder wenn der Mindestlohn generell für alle auf 5,75 Euro gesenkt würde, liegt in der Zukunft. Wobei die Gewerkschaften gerade von einer Erhöhung auf neun oder zehn Euro reden. Volkswirtschaftler argumentieren, die Nachfrage (der Unternehmen) nach Arbeit steigt, wenn die Kosten für die Arbeit sinken. Vielleicht hatte ein ausnahmsweise niedriger Mindestlohn für alle sein Gutes. Als gute Europäer weisen wir schließlich auch darauf hin, dass nur in Deutschland so etwas ähnliches wie „Vollbeschäftigung“ herrscht, wenn man das bei drei Millionen Arbeitslosen so nennen will, ohne rot zu werden. In anderen Ländern der Europäischen Union ist Arbeitslosigkeit zum Teil ein Riesenproblem, vor allem unter jungen Leuten. Die Quote in Griechenland und Spanien beträgt sogar über 20 Prozent. Den Zustrom frischer Arbeitskräfte sehen die dortigen Arbeitssuchenden eher mit gemischten Gefühlen.

Bleiben schließlich die Konsequenzen für Salih. Wenn er zum halben Satz pro Stunde arbeiten würde, hätte er 5,75 Euro in der Stunde, 46 Euro pro Tag und 920 Euro im Monat, brutto. In Syrien beträgt das Durchschnittseinkommen 237 Euro6 (wahrscheinlich zu Friedenszeiten).
Salih könnte sich freuen.
1 Bundesagentur für Arbeit, Dezember 2015
http://statistik.arbeitsagentur.de/
2 Der Handlanger ist tot
http://zabota.de/?p=355
3 Früchte des Zorns
https://de.wikipedia.org/wiki/Fr%C3%BCchte_des_Zorns
4 Mindeslohnkatastrophe
http://zabota.de/?p=126#more-126
5 Wie wäre es mit einer Flüchtlingsquote?
http://zabota.de/?p=180#more-180
6 Länderdaten Syrien
http://www.laenderdaten.info/durchschnittseinkommen.php

Zum selben Thema: die FAZ
http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/uebertragung-von-mindestlohn-ausnahmen-auf-fluechtlinge-13929123.html

PS vom 2.02.2016:
Das IW schätzt, dass 2017 rund 276.000 Flüchtlinge erwerbstätig sein werden.
PS vom 4.02.2016:
Die IG Metall schlägt Integrationsjahr für Flüchtlinge vor.